Kunst ist ein Fragezeichen

Berlin, 8. Februar 2017

wohnungsnotfallhilfe filmDas Netzwerk Berliner Kältehilfe ist im 5. Monat und wird Ende März wieder beendet. Aktuell stehen jede Nacht über 900 zusätzliche Schlafplätze in Notübernachtungen und Nachtcafés zur Verfügung. Dennoch schlafen sehr viele Menschen in Berlin nach wie vor im Freien. Verantwortliche der Wohnungsnotfallhilfe schätzen, dass in Berlin täglich tausende Menschen ohne feste Unterkunft unterwegs sind.

Ab Donnerstag, den 09.02.2017 werden verschiedene Berliner Kinos vier Wochen lang einen musikalischen untermalten Kurzfilm zum Thema „Obdachlosigkeit in Berlin“ zeigen.
Wir wollen damit möglichst viele Menschen erneut für die traurige Situation jener Menschen sensibilisieren, die auch in der kältesten Jahreszeit ohne Wohnung (über-)leben müssen.

 

Ein Filmteam hat dabei eindrucksvolle Bildszenen auf Berlin Straßen festgehalten. Eine professionelle Opernsängerin, Frau Elisabeth Stützer hat den Film mit dem „Leiermann“ aus Schuberts „Winterreise“ musikalisch untermalt. Sängerin und Filmteam haben den Spot und ehrenamtlich angerfertigt. Ein Dank an dieser Stelle an das gesamte Team.

Aus dem Film wurde ein eindrucksvoller Kinospot herausgearbeitet. Im Kino kann man nun den Spot sehen, auf unserer Webseite den gesamten Film.

Hier ein Interview mit der Künstlerin:

„Kunst ist ein Fragezeichen“
Frau Stützer, in Ihrem Video zeigen Sie eindrucksvoll Aufnahmen von Obdachlosen in Berlin. Musikalisch begleiten Sie diese Bilder mit dem „Leiermann“ aus Schuberts „Winterreise“. Wie kommt eine klassische Sängerin dazu, sich für Obdachlose zu engagieren?
Das ist nicht so ungewöhnlich: Als Mensch, der seit sieben Jahren in Berlin lebt, fällt mir einfach auf, dass die Zahl der Obdachlosen steigt. Man sieht sehr viel mehr Arme, die in prekären Verhältnissen leben: Die 80Jährige Dame, die mitten in der Nacht, wenn ich von der Oper nach Hause fahre, Flaschen sammelt; der alte Mann, der mit geflickten Handschuhen an der Bahnhofsmission um einen Teller Suppe ansteht, weil er mit seiner Rente nicht mehr klarkommt; Menschen, die bei Schnee und Eis unter Berliner Brücken schlafen. Das belastet mich, als mitfühlender Mensch tut mir das weh.

Gab es ein Schlüsselerlebnis?
Ich hatte mich gerade beruflich mit Schuberts „Winterreise“ beschäftigt. Als ich in der S-Bahn saß, stieg ein wirklich sehr alter Mann mit einem Akkordeon in den Zug. Er musste wahrscheinlich mit seinem Spiel und seinem Gesang die karge Rente aufbessern, um über die Runden zu kommen. So etwas darf in unserer Gesellschaft nicht sein.

Der Leiermann aus Schuberts Winterreise ist fast 200 Jahre alt, der Text klingt aber erstaunlich aktuell.
Ich sehe, dass das Klima rauer geworden ist. Das gilt übrigens auch in meinen Beruf als junge Sängerin, in dem es immer schwieriger wird, langfristige Engagements zu finden. Gerade freischaffende Künstler sind nie weit weg von der nächsten Phase der Arbeitslosigkeit. Wenn dann etwas schief geht im Leben, weil man zum Beispiel krank wird oder ein nahe stehender Mensch stirbt, können wir alle in schwierige Situationen kommen. Die meisten Obdachlosen, die ich kennen gelernt habe, sind durch schlimme Schicksalsschläge, Krankheit oder biographische Brüche „abgerutscht“. Das nehme ich als Künstlerin wahr und verarbeite es dann kreativ.

Vielleicht sind viele, denen es materiell besser geht, fast zufällig in einer stabileren Lebensphase?
Ich bin davon überzeugt, dass es oft nur Glück oder Zufall ist, dass es uns gut geht. Bei mir läuft es zum Beispiel gerade rund. Aber was würde passieren, wenn ich durch eine Krankheit meine Stimme verliere, einen Unfall habe…Das geht oft sehr schnell. Ich glaube, dass wir alle gut beraten sind, das nicht zu vergessen

Der „Leiermann“wirkt auf den musikalischen Laien wenig hoffnungsvoll…
Es kommt darauf an, in welchen Kontext man das Stück setzt. Der Winter wird hier vordergründig oft nur als Metapher für den Tod und den Seelenzustand des Protagonisten benutzt. Man kann diese Abfolge von vertonten Gedichten aber auch ganz anders interpretieren. Überhaupt lässt dieser Liederzyklus die Frage nach dem Tod am Ende offen. Die Winterreise lässt viele Interpretationsmöglichkeiten zu und wird von jedem Zuhörer anders aufgenommen. Kunst lädt im Idealfall dazu ein, sich Gedanken zu machen. Kunst ist ein Fragezeichen niemals eine Antwort. Deshalb fand ich gerade den „Leiermann“, der die Winterreise von Schubert beschließt, so ideal für dieses besondere Videoprojekt.
„Der Leiermann“ lädt in diesem Kontext zum Nachdenken über den uns täglich begegnenden Zustand der Obdachlosigkeit in dieser Stadt ein. Mit dieser Unvoreingenommenheit im Denken möchte ich in Zeiten von neuen US - Präsidenten, Krieg in Syrien und klaffender Schere zwischen Arm und Reich meinen Mitmenschen im täglichen Umgang begegnen.

Die Mezzosopranistin Elisabeth Stützer stammt aus der oberbayerischen Grenzregion zu Salzburg und ist deutsche und österreichische Staatsbürgerin. Sie lebt seit rund sieben Jahren in Berlin. Vor ihrer Gesangsausbildung begann sie ein Klavierstudium an der Universität Mozarteum Salzburg. Ihr Gesangstudium absolvierte sie an der Universität der Künste Berlin und am Studio Vocale in Walheim/Stuttgart.

Das Video entstand in Zusammenarbeit mit:
Gesang & Konzept: Elisabeth Stützer
Pianist: Jonathan Ware
Kamera: Joel Kinast
Schnitt: Peter Schulz
Ton: Stefan Intemann & Yuan Zhang